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WWF - Wildschwein, Wolf und Fuchs

…Urlaubsbekanntschaften der ganz besonderen Art.
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Es ist erst vor fünf Jahren gewesen, als Simply, Ceallagh und ich in der Toskana von einer überdimensionalen Wildsau angegriffen wurden. Wir wollten wie jeden Morgen einfach mal kurz den schmalen Trampelpfad (siehe Bild oben) zum Hausbach gehen, der keine 100 Meter hinter dem Haus ist und auch zu diesem gehört. Links von uns in einer Höhe von etwa 1,50 Meter eine typische Toskanische Terrasse mit Olivenbäumen, zum Rand mit Brombeersträuchern und Ginster dicht bewachsen, rechts vom Weg toskanische Macchia, pieksige Sträucher und Unterholz aller Art, die hangabwärts keinen Raum bieten, auszuweichen. Dort kann man nur hintereinander her gehen, ein Einpersonenweg sozusagen. Simply rannte vor, Ceallagh hinterher und ich lief zum Schluss. Normalerweise laufen die Hunde die Strecke im Schweinsgalopp vor und warten am Wasser auf mich. Es gibt dort zwar viel Wild und damals auch eine sehr große Präsenz an Wildschweinen, denn die Wühlen sah man überall, traf im Auto vorbeifahrenden Exemplare am Wegesrand stehend und auf Wanderungen sah man sie über Wege queren oder hörte sie im Gebüsch. Doch gegen 10.00 Uhr am Morgen fühlte ich mich sicher, da es dann schon so heiß war, dass ich nicht im Traum an eine Begegnung mit größerem Wild so nah am Haus rechnete. Simply war schon außer Sicht, als ich kurz vor einer Biegung erst Getöse hörte und dann Simply in unsere Richtung rennend sah, immer wieder nach hinten schauend mit viel Weiß in ihren Augen. Ich wusste sofort, was sie hinter sich erwartet und schon erschien es, laut trampelnd und schnaubend, aber nicht hinter ihr, sondern schräg über und vor uns, auf der Terrasse und sprang von dort runter, direkt vor uns. Eine Wildsau, in meiner Erinnerung so groß wie ein Kleinwagen, in Realität etwa hüfthoch, was ich gruselig genug finde. Simply versteckte sich hinter mir, ich drehte der Wildsau meine Seite zu und schrie um mein Leben, worauf diese umdrehte und auf dem Weg floh, den Simply eben in meine Richtung rannte. Dabei stieß sie gegen Ceallagh, die schon eingefroren stehen geblieben war, als Simply in unsere Richtung rannte, wohl ahnend, dass sich tot zustellen und sich gar nicht zu bewegen auch eine vernünftige Strategie ist, zu überleben. Ceallagh wurde von der überdimensionalen Bache einfach ins Gebüsch geschubst. Ich zitterte am ganzen Leib, hörte vom Haus her Rufe, ob alles in Ordnung sei und antwortet weinend: "Wir haben überlebt. Sie ist weg!" Simply und Ceallagh sprangen an mir hoch, als würden sie ihrer Erleichterung kundtun, wie sie es tun, wenn ich stundenlang nicht zu Hause war.

Damals las ich mich ein. Warum war die Wildsau so groß?

Es gab immer Wildschweine in der Toskana, es gab immer Jäger in der Toskana und auch Wilderer. Wilderei ist zwar verboten, wird aber kaum geahndet. Auch wenn die Toskana in Europa mit zu den Wildschwein reichsten Gegenden gehört, haben Jäger und Wilderer es wohl geschafft, ihren Bestand so drastisch zu reduzieren, dass das ursprüngliche toskanische Wildschwein, welches dem kleinen korsischen Wildschwein ähnelt, (wir kennen es alle von Asterix und Obelix, welcher das korsische Wildschwein sympathisch und lecker fand) vom Aussterben bedroht war. Das toskanische Wildschwein bekommt etwa 2 Junge im Jahr und hatte eine überschaubare Größe. Die Einheimischen Verantwortlichen dachten nach, wie sich der Wildschweinbestand erholen könnte, ohne auf Jagd und Wilderei zu verzichten. So kreuzte man osteuropäische Wildschweine ein, das heißt, man setzte sie einfach aus, kreuzen und vermehren taten sie dann von alleine. Osteuropäische Wildschweine bekommen bis zu 13 Junge im Jahr, da durch die harten Winter mit höherem Verlust zu rechnen ist. Um die Art bestehen zu lassen, braucht es dann einfach mehr Nachwuchs. Außerdem sind sie riesig im Vergleich zu ihren im Süden lebenden Verwandten aus ähnlichem Grund. Harte Winter und der Wolf lassen sich mit einer stattlichen Figur einfach besser überleben. Man ahnt es schon, dass dies keine gute Idee war. Das fast ausgestorbene Wildschwein vermehrte sich nun in mehr als doppelter Geschwindigkeit und noch dazu war es viel größer und damit auch verfressener, als das heimische. Die gigantische Wildsaukreuzung lief aus dem Ruder und wurde zur Plage. Gärten, Felder, Wälder, alles litt. Es wurde dazu aufgerufen, Wildschweine zu dezimieren, mit Volkes Hilfe. Jeder Landwirt, jeder Landbesitzer durfte nun Wildschweine schießen, auch ohne Jagdschein. Offenbar hatte dies Erfolg, denn in den Folgejahren war ich zwar weit vorsichtiger und unsicherer auf den Wegen in der Toskana, aber traf nie wieder eins hautnah. Auch die Spuren wurden weniger. Natürlich sah man hie und da noch ein paar Wühlen, aber auch nicht mehr oder weniger als hierzulande.

Als ich die Wildkamera vor drei Jahren zum ersten mal mit in Urlaub hatte, hoffte ich insgeheim, eines im Bild einzufangen, was mir sogar schemenhaft gelang, aber nur von hinten. In Berlin hätte man es für einen
entlaufenen Löwen gehalten.

In den toskanischen Hügeln leben viele interessante Tiere, wie in allen großen und weiten Wäldern Südeuropas. Die alten Häuser in den Bergen, die einen Gemüsegarten und einen Komposthaufen haben, wissen darum, denn sie haben Mitesser. Alles was an Küchenabfall auf den Komposthaufen geworfen wurde, war schon morgens wieder aufgefuttert. Zucchini und Tomatenreste, Melonen-, Kartoffeln- und Möhrenschalen, sowie Salatreste. Was Abends draufgekippt wurde, war morgens schon wieder weggefuttert. Natürlich ging ich davon aus, dass dies die Wildschweine fraßen, daher stellte ich auch die Wildkamera im ersten Jahr zunächst mal an den Komposthaufen. Es war aber gar kein Wildschwein, was die Gemüsereste schnabulierte, sondern Fuchs und Ratte. Der erste Fuchs, der in die Kamera schaute, war auf einem Auge wohl blind, denn nur ein Auge reflektierte das Kameralicht. Wir nannten sie Else, nach Georg Kreislers Lied "Das einäugige Elschen". Nach Else futterte eine Ratte weiter, die, nachdem ich den Haufen zwei Wochen beobachtete und die Hunde immer wieder beim Wühlen und schnuppern an dem Haufen sah, dort wohl wohnt. Sie hat Gänge im Kompost. Es tauchte ein weiteres Füchslein auf. Viel kleiner als der erste, sehr unsicher und vorsichtig in seinen Bewegungen und in erbärmlichen Zustand, was das Fell betraf. Meine Laienhafte Diagnose lautet Räude. Das Fell war stellenweise struppig oder fehlte ganz, der Schwanz war kahl. Der Fuchs klein und ängstlich, so nannten wir ihn liebevoll "das räudige Füchslein".

Das waren die ersten Aufnahmen mit meiner neuen Wildkamera. Man macht sich Gedanken, wo und wie man sie aufhängt, hofft, was man wohl aufnehmen wird und findet man dann am nächsten Morgen andere Tiere als die eigenen Hunden auf dem Chip, freut man sich riesig und hat sofort eine freundschaftliche Beziehung zum Tier. Manchmal sind es nur wenige Sekunden, manchmal hat man mehr Zeit. Wenn das Tier die Kamera bemerkt und hineinschaut, fühlt es sich so an, als könnte man Guten Tag oder besser Buena Notte sagen.

Manche Aufnahmen geben einem Rätsel auf, sowie das Wildschwein. Es läuft so schnell und ist nur so kurz zu sehen, dass man immer wieder ein Standbild sucht und versucht etwas zu erkennen. Reinzoomen hilft oft, aber die meisten Standbilder sind unscharf. Ganz Berlin hat wegen einem schlechtem Foto einen Löwen vermutet, was sich im Nachhinein als Wildschwein entpuppte. Ein Experte analysierte das Bild. Ich bin kein Experte, aber das analysieren macht Spaß und wer weiß, vielleicht hilft es ja, dass ich mal Biologie studiert habe. Ein dicker Hintern der durchs Bild huschte wurde von mir direkt als Wildschwein interpretiert und nicht als Löwe. Mit größeren Jägern als dem Fuchs habe ich einfach nicht gerechnet.

Umso erstaunter war ich, als dieses Jahr ein wolfähnliches Tier auf meiner Kamera erschien. Ich sage bewusst wolfähnlich, denn erstens wusste ich, als ich die Aufnahme sah noch nicht, dass es Wölfe in der Toskana gibt und zweitens hatte dieses Tier auch Merkmale, die ich seltsam für einen Wolf fand. Der Nordeuropäische und auch Nordamerikanische Wolf zeichnet sich durch eine gewisse Hochbeinigkeit und Schlacksigkeit aus. Lange Beine, schmale Brust, langer Rücken. So kenn ich Wölfe, zwar nicht persönlich, aber von unzähligen Bildern und Videos. Irgendwann vor Jahren, als der Wolf anfing sich in Deutschland und Belgien wieder anzusiedeln, habe ich mich mit den Unterschieden von Wolf und Hund beschäftigt. Mir ist im Gedächtnis geblieben, das Experten immer zuerst auf die Rute schauen. Sie hängt nämlich immer, es sei denn der Wolf ist in einer Interaktion, also einem "Gespräch" indem er etwas mit der Rute sagen möchte. Bei wolfsähnlichen Hunden ist das anders, sie haben eine geschwungene Rute. Mein wolfsähnliches Tier hat eine hängende Rute mit typischer schwarzer Rutenspitze. Er hat auch kleinere Ohren im Verhältnis zum Schädel und einen breiteren Kopf. Auf fiel die muskulöse Vorderhand, aber eben auch die für einen Wolf eher kurzen Beine und kräftige Brust. Vielleicht doch ein Hund? Ich googelte mir die Finger wund und lernte schon dabei sehr viel. Es gibt über 100 Wolfsrudel in der Toskana und in einigen leben auch Wolfshybride. Vielleicht ein Hybrid? Das würde die hundeähnlichen Merkmale erklären. Ich googelte weiter und fand einen Artikel über die
Populationsdichte des Wolfes indem der italienische Wolfsexperte Frederico Morimando über den Wolf und Hybride erzählt.

Ein Experte, der wird's wissen dachte ich. Ich schrieb ihn an und fragte. Eigentlich rechnete ich gar nicht mit einer Antwort, denn bei hoher Wolfspopulation bekommt der Mann sicher ständig solche Fragen. Am nächsten Tag aber schrieb er mir auf Facebook und bestätigte mir, dass es sich ganz sicher um einen echten italienischen Wolf handelte. Inzwischen hatte ich auch schon selbst herausgefunden, dass der italienische Wolf eine eigene Unterart ist und sich von dem Nordeuropäischen Wolf ein wenig unterscheidet. Canis lupus lupus hat längere Beine.
Canis lupus italicus passt in seiner Beschreibung genau auf das Tier in meiner Kamera. Dr. Morimando riet mir abends und nachts die Hunde bei mir zu halten, da durch die hohe Population an Wölfen, die Aggression unter ihnen und somit auch Hunden gegenüber steigt. Hat sich früher ein Einzelwolf eher zurück gezogen, wenn er auf Hunde traf, wäre er jetzt wohl eher bereit, einen Konflikt einzugehen.

Ein Wolf, keine 50 Meter vom Haus weg. Wie aufregend. Ich wusste nicht, dass es dort Wölfe gibt, nun weiß ich es, und auch dass es sie dort eigentlich immer schon gegeben hat. Die Wolfspopulation steigt allerdings dramatisch, eventuell kann man sogar Zusammenhänge zwischen Wildschweinproblemen und Wolfsproblemen entdecken. Denn das Wildschwein ist mit dem Reh zusammen die Hauptbeute der italienischen Wölfe. Es gibt genug zu futtern für den italienischen Wolf.

Besser hätte der Urlaub für mich eigentlich gar nicht werden können. Er startete mit einer Aufnahme von einem Dachs, der erst bergauf huscht und dann wieder bergab. Irritierend an der Aufnahme war, dass der Dachs durch das ganze Bild zusehen war. Die Kamera löst mit einer Verzögerung von einer Sekunde aus. Bei einem rennenden Tier ist daher immer nur das "Aus dem Bild huschen" zu sehen. Irgendwas muss also die Kamera ausgelöst haben, dass der ganze Weg drauf ist. Ich rechnete mit einem Nachtfalter, fand aber keinen. Und dann entdeckte ich beim Durchschauen am linken unteren Bildrand einen Umriss eines zweiten Dachses. Ohhh, nachlaufende Dachse. Das tun sie als Paarungsritual. Sie rennen kreuz und quer durch ihr Gebiet hintereinander her. Wie wunderbar! Auch wenn es nicht wirklich zu sehen ist, weiß ich doch, dass es das ist, was in dieser Nacht keine 50 Meter vom Haus passierte.

In der Nacht nach dem Wolf erschien ein Marder und ein Rehbock. Auch wenn diese beiden Vertreter nichts Spektakuläres sind, zeigen sie mir einfach, wer dort nachts so nah am Haus unterwegs ist.

In der letzten Nacht, in der Aufnahmen gelangen, sah man außer einem scheuen Füchslein noch mein persönliches Highlight des gesamten Urlaubs: Das Stachelschwein. Als wir vor fast 30 Jahren den ersten Urlaub in der Toskana machten, sammelten die Kinder Stachelschwein Stacheln. Einmal sahen wir Abends eines am Straßenrand im Gebüsch verschwinden, als wir im Auto saßen. Jedes Jahr wieder reisten wir mit einzelnen Stacheln im Koffer nach Hause, die für die Kinder jedes Mal eine faszinierende, ja exotische Beute waren. In den letzten Jahren fand ich keinen einzigen Stachel mehr. Traurig ging ich davon aus, dass das Stachelschwein verschwunden wäre. Es würde mich nicht wundern, so wie der Mensch sich überall ausbreitet und mehr oder weniger aktiv Einfluss auf die Fauna nimmt. Aber weit gefehlt, es gibt sie noch! Die Punker unter den Nagetieren. Der lustige Irokese aus pieksigen Stacheln. Mit welcher Gemütlichkeit er vor der Kamera im Laub schnuffelt. Herrlich!


Fauna Notturna neu Vicinato - Nächtliche Fauna in der Nachbarschaft (Mai 2024)

Über die leichte Enttäuschung immer noch keine Vernünftige Aufnahme einer gigantischen Wildsau zu haben, komme ich locker hinweg durch Wolf und Stachelschwein, den Überraschungsgästen in diesem Urlaub. Was soll denn das noch toppen?


Simply and Pidou sniffing around animal trails (Juni 2022)


Nightlife at the compost pile (Mai 2022)




May 2024
January 2024